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Urteil - Sozialversicherungsrecht

Hohe Risiken einer Scheinselbstständigkeit bei VHS-Dozenten

Ob Lehrende sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, ist von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängig. Es gibt keine gefestigte und langjährige Rechtsprechung, wonach eine lehrende Tätigkeit – insbesondere als Dozent an einer Volkshochschule – bei entsprechender Vereinbarung stets als selbstständig anzusehen wäre. Dies hat am 5. November 2024 der 12. Senat des Bundessozialgerichts entschieden (Aktenzeichen B 12 BA 3/23 R).

Der Sachverhalt:

Die klagende Volkshochschule bietet unter anderem Kurse zur Vorbereitung auf die Erlangung eines Realschulabschlusses auf dem zweiten Bildungsweg an. Ein Student vereinbarte mit der VHS die Erteilung von Unterricht im Rahmen solcher Kurse in Recht und Politik. Er sollte dabei nicht angestellt, sondern auf selbstständiger Basis tätig sein. Nach den Vertragsbedingungen der VHS war ein Weisungsrecht ausgeschlossen. Die VHS stellte die Unterrichtsräume zur Verfügung und stimmte die Unterrichtseinheiten zeitlich mit dem Studenten und den anderen Dozenten ab. Den Unterricht gestaltete der Student selbstständig. Er übermittelte regelmäßig eine Leistungseinschätzung für die einzelnen Schüler an die Fachbereichsleitung, die diese in einer Art Zwischenzeugnis von allen Lehrenden zusammenstellte. Die Deutsche Rentenversicherung Bund stellte bei einer Prüfung die Versicherungspflicht des Studenten aufgrund Beschäftigung fest und forderte die VHS zur Nachzahlung von Rentenbeiträgen für die Jahre 2017 bis 2021 auf.

Die Entscheidung:

In den ersten beiden Instanzen konnte sich die VHS mit Ihrer Argumentation, es sei eine selbstständige Tätigkeit vereinbart worden, durchsetzen. Das Landessozialgericht wies darauf hin, für die Zeit vor Juni 2022 habe es eine maßgebliche höchstrichterliche “Sonderrechtsprechung“ gegeben, nach der lehrende Tätigkeiten grundsätzlich als selbstständige Tätigkeiten zu beurteilen gewesen seien (insbesondere Urteil vom 12. Februar 2004, Aktenzeichen B 12 KR 26/02 R). Erst durch das Urteil vom 28. Juni 2022 (Aktenzeichen B 12 R 3/20 R – sogenanntes Herrenberg-Urteil, vgl. hierzu auch meine Besprechung unter Aktuelles) sei eine Änderung eingetreten. Auf davor liegende Zeiträume seien die vermeintlich geänderten Grundsätze nicht übertragbar. Der VHS sei insoweit Vertrauensschutz zuzubilligen.

Dem hat der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) widersprochen und das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben. Es sah den Studenten nach den maßgeblichen Verhältnissen des Einzelfalls jedenfalls in der Zeit vom 7. August 2017 bis zum 22. Juni 2018 als versicherungspflichtig beschäftigt und damit nicht als selbstständig an. Hinsichtlich der späteren Zeiträume hat der Senat die Sache zur Durchführung weiterer Ermittlungen an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Bewertung:

Während selbstständige Lehrer, die der Rentenversicherungspflicht unterliegen, ihre Beiträge zur Sozialversicherung selbst tragen müssen, werden die Beiträge im Fall der Beschäftigung von den Versicherten und den Arbeitgebern grundsätzlich zur Hälfte getragen.

Anders als vor dem Landesozialgericht drang die VHS vor dem BSG nicht mit Ihrer Argumentation nach einem Vertrauensschutz und dem Hinweis auf die wirtschaftliche Problematik durch. Auch wenn die VHS geltend mache, durch die Beitragszahlung für vergangene Zeiträume unzumutbar zusätzlich belastet zu werden, vermöge allein dies einen Vertrauensschutz nicht zu begründen. Eine gefestigte und langjährige Rechtsprechung, wonach eine lehrende Tätigkeit – insbesondere als Dozent an einer Volkshochschule – bei entsprechender Vereinbarung stets als selbstständig anzusehen wäre, existiere nicht. Daher könne sich die Volkshochschule auch nicht auf den Fortbestand einer früheren Rechtsprechung berufen. Entscheidungen über das Vorliegen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungen beruhen stets auf einer Einzelfallbeurteilung.

Die neuere Rechtsprechung des BSG stellt Musikschulen, aber auch Volkshochschulen vor erhebliche finanzielle Probleme bis hin zum Insolvenzrisiko bei mehrjährigen Beitragsnachforderungen für eine Vielzahl von Mitarbeitern. Ein Vertrauensschutz wie ihn auch das Landessozialgericht gesehen hatte, wäre wünschenswert gewesen. Hier zeigte sich das BSG allerdings wie bereits regelmäßig in der Vergangenheit „hartleibig“.

Kulturelle, aber auch lehrende Einrichtungen, stehen damit im Hinblick auf den Mitarbeitereinsatz vor kaum zu bewältigenden Problemen. Ob die Versuche der Praxis, etwa Musiklehrern zukünftig eine Art Miete abzuverlangen für die zur Verfügung gestellten Räume / Instrumente genügen wird, um eine Selbstständigkeit zu begründen, ist insbesondere vor dem Hintergrund der kaum vorliegenden unternehmerischen Chancen der Lehrer fraglich und bleibt mit einem erheblichen Risiko behaftet. In der Praxis dürften diese Urteile denn auch weniger dazu führen, dass die nachvollziehbaren Belange der Lehrer zukünftig besser beachtet werden (Kündigungsschutz, Urlaub, Lohnfortzahlung etc.). Vielmehr ist eine Ausdünnung des kulturellen Angebots zu befürchten oder aber eine erhebliche Kostensteigerung bei den Angeboten mit allen damit verbundenen negativen Konsequenzen.

Angesichts der erheblichen Risiken einer Scheinselbstständigkeit ist allen Schulen dringend anzuraten, vor Aufnahme einer Beschäftigung ein Statusklärungsverfahren durchzuführen und sich zuvor umfassend beraten zu lassen.

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